Gelernt, Lernen zu lieben

Bildung gehört zu den großen Herausforderungen unserer Zeit, aber auch zu den nachhaltigsten Maßnahmen im Entwicklungsbereich. Denn nur dort, wo in Bildung investiert wird, gibt es Menschen, die mit der Zeit lernen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Lebenslanges Lernen ermöglicht den Menschen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern und zur Entwicklung der Gemeinschaft und des Landes beizutragen.

SEKEM ging es schon immer darum, Bildung ganz nah aus den konkreten Verhältnissen heraus zu entwickeln: ob beispielsweise im SEKEM Kindergarten, in der SEKEM Schule oder in der Heliopolis Universität für nachhaltige Entwicklung. “Mit der SEKEM Schule orientieren wir uns am ägyptischen Schulsystem und wollen ein Beispiel für andere Schulen sein – mit den ägyptischen Lehrern und dem staatlichen Curriculum”, so Yvonne Floride, die für schulische und praktische Aus- und Fortbildung bei SEKEM zuständig ist. Leitend ist dabei stets die Frage, was die Menschen in ihrer jeweiligen Situation an ihrem jeweiligen Ort benötigen. Lernend arbeiten, arbeitend lernen – das ist mehr als „learning by doing“.

Eine lernende Gemeinschaft

Dieses Credo war von Anfang an die Grundlage für die SEKEM Schule, die im Jahr 1989 gegründet wurde. Seit dem Gründungsjahr bemüht sich die SEKEM Schule um eine kontinuierliche Curricula-, aber auch Lehrerentwicklung. “Alles, was ich an zusätzlicher Zeit aufbringen konnte, floss damals in den Aufbau der Schule, auch in finanzieller Hinsicht”, erinnert sich SEKEM Gründer Dr. Ibrahim Abouleish. “Ich richtete die Finanzierung so ein, dass die SEKEM Betriebe die Schule mit zehn Prozent ihres Gewinns sponsern. Außerdem lieh ich von Banken Geld, um die Schulgebäude fertig bauen zu können. Finanzielle Unterstützung bekamen wir zusätzlich von dem SEKEM Förderverein Deutschland”, sagt er weiter.

Dr. Ibrahim Abouleish beim allerersten Schultag der SEKEM Schule.

Viele Menschen an seiner Seite unterstützen ihn dabei. So übernahm seine Frau Gudrun Abouleish zunächst die Schuldirektion. Elfriede Werner war damals unermüdlich tätig, Dozenten für die Lehrerbildung zu finden und Geld für alle nötigen Einrichtungsgegenstände der Schule oder für Unterrichtsmaterialien zu sammeln. Zusammen mit Professor Dr. Klaus Fintelmann von der Hibernia-Schule in Wanne-Eickel sowie mit Winfried Reindl und der Architektin Gerdi Bentele entwickelte Dr. Ibrahim Abouleish das Schulkonzept und Modelle für einen Schulbau. Dies war für alle eine sehr lebendige Arbeit: “Wir planten die Formen der einzelnen Klassen und Fachräume und deren Farbgestaltung, Lehrerzimmer, Elternsprechzimmer und Arztzimmer sowie eine Moschee und eine Kapelle für die koptischen Kinder”, sagt Dr. Abouleish.

Die SEKEM Schule ist mehr als nur eine Schule

Die SEKEM Schule umfasst Unter-, Mittel und Oberstufe für rund 300 Schüler. Sie liegt auf dem Gelände der SEKEM Farm, etwa 60 Kilometer nordöstlich von Kairo. Obwohl die SEKEM Schule vom ägyptischen Ministerium für Bildung genehmigt wird und auf dem ägyptischen staatlichen Curriculum basiert, fördert sie auch neue Formen der pädagogischen und sozialen Interaktion. Die Schüler repräsentieren alle sozialen Ebenen und kommen vor allem aus der nahegelegenen Stadt Bilbeis oder den umliegenden ländlichen Gebieten. Die Schule steht Kindern aller Religionen offen und ermutigt sie, in Harmonie zu leben und Respekt für die religiösen Praktiken des anderen zu haben.

“Bei uns heißt Lehrer sein, viel mehr als nur das jeweilige Fach zu unterrichten”, Yvonne Floride

Genau genommen, ist die Schule aber mehr als eine Schule im klassischen Sinne: Die Kinder brauchen, wenn auf ihre wirklichen Bildungsbedürfnisse eingegangen werden soll, eine Balance zwischen theoretischen Lerninhalten und künstlerischem und praktischem Tun. “Wir unternehmen viele zusätzliche Aktivitäten mit den Schülern: Wir essen mit ihnen in der Cafeteria, wir gehen mit ihnen in der Moschee beten, wir säubern mit ihnen das Klassenzimmer”, sagt Yvonne Floride. “Bei uns heißt Lehrer sein, viel mehr als nur das jeweilige Fach zu unterrichten. Wir wollen einen ganzen Lebensbereich mit den Schülern und Lehrern abdecken”, berichtet sie weiter. Seit dem Gründungsjahr der Schule erhalten die Schüler Unterricht in Fächern, wie beispielsweise Malerei, Musikunterricht, Skulpturenerstellung aus Lehm und Holz, Handarbeit und Gartenarbeit, sowie in den klassischen Fächern Arabisch, Englisch, Deutsch, Mathematik, Geographie, Geschichte, Biologie, Chemie und Physik.

Ein Klassenzimmer der SEKEM Schule.

Eine Schule auch für Lehrer

Um die Vision der Schule zu verwirklichen, die nicht nur den Intellekt, sondern auch den seelischen und den physischen Bereich der Kinder anspricht, hat SEKEM Kunst und Handwerk in das Schulcurriculum hereingenommen. “Und zwar nicht nur als Anhängsel: Wir müssen die Lehrer in einen ständigen Lern- und künstlerischen Prozess bringen, um den verschiedenen Altersstufen und der Schule gerecht zu werden”, weiß Yvonne Floride. So war Lehrerbildung von Anfang an mit dabei: jeden Tag eine Stunde im Anschluss an die Schulzeit, aber auch im Prozess werden die Lehrer beleitet. “Die Ausbildung unserer Lehrer war sehr zeitintensiv”, blickt Dr. Ibrahim Abouleish zurück. “Immer kam es mir weniger auf die intellektuelle Begabung der neuen Lehrer an als auf ihre charakterlichen Eigenschaften, die auf die Kinder menschenbildend wirken”, sagt er weiter.

Daran erinnert sich auch Gamal El-Sayed, Schuldirektor der SEKEM Schule: “Ich bin eigentlich ausgebildeter Arabischlehrer und musste auf einmal mit Ausländern aus beispielsweise Deutschland, aus Österreich oder Südafrika kommunizieren. Das war für mich natürlich eine Herausforderung”, sagt er weiter. “Mein Horizont hat sich dadurch erweitert. Wir als Lehrer mussten auf einmal auch Eurythmie machen, nicht nur die Schüler. Das war schon etwas Besonderes”.

“Die gegenseitige Wahrnehmung, das gegenseitige Anerkennen, das Erlebnis der älteren Schüler, wenn sie sehen, wie die jüngeren etwas zeigen, das sie früher auch einmal erarbeitet haben, das sind ganz eigene Bildungserlebnisse”, Dr. Ibrahim Abouleish

Der Kunsteinfluss zeigt sich auch in den wöchentlich Schulfeiern am Donnerstagnachmittag. Die Schüler reflektieren die Woche in musikalischen Darbietungen und Aufführungen. Mit dabei sind auch der Kindergarten und die heilpädagogische Einrichtung. “Die gegenseitige Wahrnehmung, das gegenseitige Anerkennen, das Erlebnis der älteren Schüler, wenn sie sehen, wie die jüngeren etwas zeigen, das sie früher auch einmal erarbeitet haben, das sind ganz eigene Bildungserlebnisse”, so Dr. Ibrahim Abouleish. “Sie tragen dazu bei, die Individualisierung und Selbständigkeit zu fördern”, fügt er hinzu.

Startschwierigkeiten

Anfänglich musste SEKEM viel Überzeugungsarbeit leisten, um Schüler für die Klassen zu finden. Heute ist die Nachfrage höher als Schulplätze zur Verfügung stehen. “Wir hatten nach kurzer Zeit bereits das Vertrauen der Lehrer und der Eltern. Sie haben gesehen, dass das Besondere an unserer Schule ist, dass die Kinder keine Nachhilfestunden brauchen und die Prüfungen ohne diese schaffen können”, sagt Yvonne Floride. Nachhilfeunterricht ist ein fester Bestandteil des ägyptischen Bildungssystem: einerseits weil die Klassen zu überfüllt sind, andererseits weil die Lehrer von ihren Gehältern häufig nicht leben können und abends ihren eigenen Schülern Nachhilfeunterricht geben. “Die SEKEM Schulen haben einen sehr guten Ruf”, bestätigt auch Gamal El-Sayed.

Für den Direktor der SEKEM Schule ist die SEKEM Initative ein wunderbares Beispiel für Brückenbau. Die Unterstützer, die kommen, arbeiten zusammen mit dem Lehrpersonal vor Ort. So kann ein gegenseitiges Lernen entstehen. Die Metapher funktioniert aber auch im materiellen Sinne: Zahlreiche Unterstützer haben etwas beigetragen – sei es, indem er nur seine Wasserfarben oder Stifte mitgebracht hat. Andere haben ganze Maschinen oder Ausstattung gespendet: So hat die Robert Bosch Stiftung beispielsweise Werkbänke für die SEKEM Schule finanziert, die Dieter-Kaltenbach-Stiftung eine Sägemaschine und der SEKEM Förderverein Schweiz drei Maschinen für die Holzwerkstatt.

Berufsausbildung – nach deutschem Beispiel

Das SEKEM Berufsausbildungszentrum wurde 1997 gegründet und hat seit dem Jahr 2000 rund 900 Lehrlinge ausgebildet. Der damalige Oberbürgermeister der deutschen Stadt Biberach an der Riss und heutiges Vorstandsmitglieds des SEKEM Fördervereins Deutschland, Claus Wilhelm Hofmann, hat sich damals sehr für den Bau des Zentrums engagiert: Die Stadt Biberach an der Riss spendete drei Jahre lang jeweils 60.000 Deutsche Mark, insgesamt 180.000 Deutsche Mark, zum Bau des Zentrums 1997.

Praktisches Lernen in SEKEMs Berufsbildungszentrum.

In Werkstätten und an modern eingerichteten Arbeitsplätzen können die Jugendlichen heute eine dreijährige Ausbildung absolvieren, die ihnen reale Berufschancen auch im ländlichen Raum eröffnet und auf dem lokalen Markt gefragt ist. Der Abschluss des Zentrums ist in Ägypten staatlich anerkannt. Die praktische Lehre mit vier Tagen Praxis- und zwei Tagen Theorieunterricht findet seit jeher in den folgenden Bereichen statt: Schreinerei, Installation, Textilverarbeitung, Elektroinstallation, Landmaschinentechnik, Bürokaufmann und Schweißen. Die nötigen Curricula für die Berufsausbildung entwickelte SEKEM damals mit Hilfe der heutigen Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH. Durch künstlerische Kurse, die etwa 20 Prozent der Ausbildung ausmachen, wird die Persönlichkeitsentwicklung und die Kreativität gefördert. Damit gewinnt die Berufsausbildung SEKEMs und das damit verbundene Bil­dungs­konzept Modellcharakter.

Wichtige Wegbegleiter waren auch Eberhard Kläger, Dieter Schütz, Klaus Charisius und Wilfried Ulrich. Sie besuchten SEKEM immer wieder und standen dem Berufsausbildunsgzentrum mit ihrer langjährigen Erfahrung bei. “Die Menschen mit langjähriger professioneller Erfahrung und die materiellen Beiträge, die sie geleistet haben, haben sehr viel hier bewirkt – ein lebendiges Beispiel dafür, wie Kulturen sich bereichern können”, sagt Gamal El-Sayed. “Ohne die Unterstützer hätten wir das nicht geschafft”, fügt Yvonne Floride hinzu.

“Die SEKEM Initiative hat ganz viele Biographien geprägt”, Yvonne Floride

Mehr Praxis geht nicht

SEKEM hat von Anfang an die eigenen Unternehmen in die Lehrlingsausbildung integriert: So lernen die Azubis nicht nur abstrakt in den Lehrwerkstätten, sondern an realen Bedingen, indem sie die Aufträge der Firmen umsetzen. “Dadurch haben sie eine gute Ausbildung, die sich an der Praxis orientiert und sehr gefragt ist”, weiß die Deutsche, die vor mehr als 30 Jahren zu SEKEM kam. So ist beispielsweise der Bedarf in den umliegenden Dörfern so groß, dass die Absolventen der Elektroinstallation sofort Arbeit finden. “Dadurch hat die SEKEM Initiative ganz viele Biographien geprägt”, fügt Yvonne Floride hinzu.

Der Schwachpunkt der Ausbildung bestand anfänglich darin, gut ausgebildete Lehrer zu finden. Aber auch hier hat sich die externe Unterstützung bemerkbar gemacht. “Dadurch, dass die freiwilligen Helfer den Ausbildern gezeigt haben, wie sie arbeiten müssen, wurden die Ausbildungsstätten mit der Zeit sehr professionell”, sagt sie weiter. “Mittlerweile konnten wir diese Lücke füllen – beispielsweise mit einem Absolventen, der nun selbst Ausbilder in den Lehrwerkstätten ist”. Die Rede ist von Moahmmed Mo’min, der nach seiner Mechanik-Ausbildung noch ein zusätzliches Zertifikat erworben hat, um selbst ausbilden zu können. “Das wünschen wir uns für alle Werkstätten. In der Schreinerei haben wir das auch geschafft”.

“Durch die Persönlichkeitsbildung und die Integration von Handwerk und Kunst in den Lehrplan entwickeln die Schüler die Liebe, um sich weiterzubilden”, Gamal El-Sayed

Liebe zum Lernen

Egal ob an der Schule oder dem Berufsausbildungszentrum: “Durch die Persönlichkeitsbildung und die Integration von Handwerk und Kunst in den Lehrplan entwickeln die Schüler die Liebe, um sich weiterzubilden”, fasst Gamal El-Sayed SEKEMs Bildungsimpuls zusammen. Insofern ist Bildung, wie sie in SEKEM verstanden wird, eine Bewusstmachung und Intensivierung der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt, zu seinen Lebensverhältnissen und so entsteht Entwicklung. Diese ethische, kulturelle und philosophische Ideenwelt, an der immer gearbeitet wird, bewegt ihn. “Die Seele, die in den Ideen lebt, zieht Leute an”, fügt er hinzu.

Christina Büns

Lernen Sie Gamal El-Sayed, Direktor der SEKEM Schule, kennen
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